Dieser Artikel ist im Rahmen meiner eigenen Blogparade entstanden. Es geht um den emotionalsten Moment als Coach oder Therapeut, den Du bisher erlebt hast. (Den Aufruf zur Blogparade und wie Du mitmachen kannst findest Du hier)
Das Gedankenkarussell dreht sich. Soll ich über die drogenrückfällige Mutter berichten, der vor meinen Augen vom Jugendamt das Kind entzogen wurde? Oder von dem Klienten mit dem Liebeswahn, der sich in mich verguckt hatte, weil er dachte, ich sende ihm über die Liedtexte der im Radio laufenden Hits geheime Botschaften? Oder aber über den 12jährigen Jungen aus dem Kinderheim, der sich an mich klammerte und mich anflehte ihn nicht allein zu lassen, als klar war, dass ich meine Tätigkeit dort aufgebe? Ich bin auf der gedanklichen Suche nach meinem emotionalsten Moment als Therapeutin.
Die Inhalte dieses Blogartikels
2.Was ich aus meinem emotionalsten Moment als Therapeutin mitnehme
Momente mit und ohne Gnade
Nennen wir ihn Thomas, den einseitig beinamputierten, attraktiven Mittvierziger, den ich vor etwa neun Jahren kennen lernen durfte. Diagnose: Krebs. Es bestand die Hoffnung, dass durch die hoch angesetzte Amputation die aggressive Krankheit gestoppt werden konnte.
Thomas und ich unterhielten uns viel. Über seine Angst, seine Schmerzen, seine Träume und sein Leben. Einmal in der Woche bekam er zusätzlich Hypnose. Bis zu dem Zeitpunkt war er für mich ein "normaler Klient".
Und dann kam alles anders: Er bekam die Nachricht, dass der Krebs metastasiert habe und eine Chemotherapie notwendig sei. Er haderte im gemeinsamen Gespräch damit, ob er es machen lassen solle. Viel beschäftigte er sich mit Sterbehilfe in der Schweiz, denn seine Hauptangst war es, elendig zu Grunde zu gehen. Es war für mich berührend, ihn in seinem Kampf zu sehen. Das Schicksal kann so grausam sein. Und doch war er immer noch ein Klient von vielen, die wirklich Schlimmes erleben mussten.
Und er meisterte es vorbildhaft, half sogar noch anderen Krebspatienten. Mit der ersten Chemotherapie begann sein Leidensweg. Seine Schmerzen vergrößerten sich. Ihm, dem sein gepflegtes Äußeres so wichtig war, gingen die Haare aus. Und doch war da ein glimmender Funke Hoffnung, den ich bewahren und nähren wollte, wo es ging.
Im Laufe der Wochen wurde klar, dass er es nicht überleben würde. Der Klient war immer mehr ans Bett gefesselt, verlor seine Lebendigkeit, litt unter extremen Stimmungsschwankungen. Der Schmerz wurde zunehmend von Medikation bekämpft, die ihn teils verwirrt und apathisch werden ließ.
Ich lernte zwei seiner Freunde kennen, die viel Zeit an seinem Bett verbrachten. Und seine Mutter, zu der er eine sehr konfliktreiche Beziehung pflegte. Plötzlich rückte sein Schicksal mir näher. Ich dachte oft an ihn und an die Wirrungen seiner sozialen Beziehungen. Irgendwie gehörte es plötzlich zum Tagesablauf, in seinem Zimmer vorbeizuschauen.
Er war Thema in meiner Supervision. Er war Thema im Gespräch mit Kollegen. Sein bald bevorstehender Tod allgegenwärtig.
Ich war dabei als er halluzinierte. Und als er gar nichts mehr zu sich nehmen konnte, sich aber einen Espresso wünschte, der halb auf der Bettdecke landete. Es war ihm wichtig, dass ich einen mittrinke. Ich wurde kontaktiert von allen Bezugspersonen - mit ihren Nöten, Sorgen und Tränen.
Und dabei war ich selbst einfach nur traurig. Schockiert über seinen Verfall, schockiert darüber, wie wenig man einem Sterbenden helfen kann und darüber, wie gnadenlos der Krebs ist. Ich konnte nichts anderes tun als für ihn und sein Umfeld da zu sein. Zuzuhören. Hand zu halten. Ich hätte mich drücken können, aber der Mensch bin ich nicht. Und doch war ich plötzlich Sterbebegleitung anstatt klinische Psychologin. Die Folgejahre zeigten, dass das eine das andere nicht ausschließt.
An einem Samstag Morgen kam die Nachricht von seinem Tod und ich fuhr direkt ins Krankenhaus. Er hatte seinen Kampf verloren - war aber nicht alleine in seiner letzten Stunde. Für ihn war es - man kann es nicht anders sagen - eine Erlösung. Er hatte Tage vorher schon kaum noch Luft bekommen, seine Wangen waren eingefallen, seine Augen in wachen Momenten voller Panik.
Und dann kam das, was die Situation endgültig zum emotionalsten Moment für mich klassifiziert hat: Die Familie äußerte den Wunsch, dass dem Verstorbenen noch ein Gegenstand mit auf den letzten Weg gegeben werden sollte. Und ich sollte ihm diesen bitte zuverlässig übergeben. Ich versprach es. Er war zu dem Zeitpunkt schon eineinhalb Stunden tot und befand sich in der Leichenkammer des Klinikums.
Man darf da nur zu zweit rein aus Sicherheitsgründen, damit niemand Schindluder mit den Toten betreibt. Es war schwer, jemanden zu finden, der mit mir gemeinsam diesen Weg antritt. Irgendwie macht doch vielen der Tod Angst. Mein Versprechen wog jedoch schwerer als meine Bedenken. Ihn so kalt, weiß und zugedeckt zu sehen, war jedoch auch für meine Nerven extrem viel. Ich übergab den Gegenstand in die Nähe seiner rechten Hand und flüchtete dann.
Dieser Anblick stand mir einige Tage lang nachts vor Augen als ich schlafen wollte. Gedanken rund um das eigene Leben und ob ich es schon wirklich lebe oder noch etwas verändern sollte, machten sich breit. Gedanken über den Sinn des Lebens. Genauso wie Gedanken rund um den eigenen Tod. In dem Moment begriff ich noch nicht, welche Gnade mir selbst dadurch zuteil wurde, dass ich Teil dieses Lebensendes sein durfte.
Was ich aus meinem emotionalsten Moment als Therapeutin mitnehme
Wochenlang beschäftigte ich mich sehr intensiv damit, mit Hilfe eines Kollegen die Situation aufzuarbeiten. Sprach sehr viel über meine Trauer, meine Hilflosigkeit und auch die Angst, die diese Wochen mir eingejagt hatten. Und auch über meine Rolle zwischen Professionalität und Menschlichkeit. Es war ja nicht so, als hätte ich noch nie einen toten Menschen gesehen. Ich hatte auch schon ein enges Familienmitglied auf ihrem letzten Weg begleitet. Aber das war anders, denn ihr begegnete ich nur in einer einzigen, privaten Rolle. Niemand erwartete dabei, dass ich Psychologin sein soll.
Meine Bucket List zu erstellen, war eine der heilsamen Tätigkeiten. Also die Liste der Dinge, die ich gerne erleben, tun oder haben möchte, bevor ich "den Löffel abgebe". Ich begann außerdem damit, die schönen, kleinen Momente im Leben viel mehr zu schätzen.
Ich begann, mich mit dem Thema Beerdigung, Vorsorgevollmacht und Testament auseinanderzusetzen. Es gab da nur ein Problem: nämlich das Umfeld. Mit dem Sterben will keiner was zu tun haben. Da kommen dann Kommentare wie "Du spinnst ja, du bist so jung, was soll Dir passieren?" Irrtum. Morgen kann es für jeden von uns vorbei sein - ohne morbide sein zu wollen. Da möchte ich dann ganz gern ein paar Dinge selbstbestimmt regeln. Auf meiner Beerdigung zum Beispiel verbitte ich mir einen "Leichentrunk". Denn ich selbst finde das ganz schlimm und eine Tortur für Angehörige.
Im Nachhinein kann ich sagen: diese Erfahrung mit Thomas hat mich so unglaublich viel reicher gemacht. Sie hat mich in meiner Persönlichkeit reifen lassen. Ich begegnete der Verzweiflung, der Überforderung, der Grenze, an der sich Fachlichkeit und Menschlichkeit treffen. Ich erlebte Lachen im Leiden. Und es entstand daraus die Bekanntschaft mit einem wunderbaren Menschen, den ich noch heute zwar selten, aber ab und zu treffe.
Für mich rückte auch mein Glaube im Anschluss an dieses Erlebnis ins Blickfeld. Mein guter Freund, Kollege und Seelsorger Werner Eckstein half mir dabei, das Geschehene in mein Gottesbild einzuordnen und Glaube für mich als Halt zu nutzen. Auch dieser wertvolle Mensch musste die Erde leider viel zu früh verlassen. Werner, mögest Du in Frieden ruhen!
Zudem wurde mir klar, dass es meine Aufgabe ist, den Kollegen dabei zu helfen, mit dem Thema Tod einen besseren Umgang zu finden. Ängste zu nehmen. Strategien anzubieten. Und ein offenes Ohr zu haben.
Und nicht zuletzt: ich hatte keine Sorge mehr davor, mich erneut einer ähnlichen Situation zu stellen. Denn eines ist für mich sonnenklar: nicht derjenige, der begleitet, braucht den meisten Mut, sondern der der stirbt. Und deshalb hat derjenige unsere volle Achtsamkeit, liebevolle Zuwendung und unser Ganz-im-Moment-sein verdient. Trauern können - und sollten wir - später!
Themen, die mich emotional besonders berühren
In meiner Selbstreflexion wollte ich mich noch einmal der Frage stellen, welche Dinge es denn sind, die mich als Therapeutin emotional berühren - viel mehr als der (ohnehin schon mit Schicksalen volle) Alltag. Die es mir schwer machen, rein fachlich zu denken. Die mich persönlich als Mensch fordern oder mir auch eine klare Stellungnahme abverlangen.
Für mich sind es immer die Momente, die mit der unverrückbaren Endlichkeit unseres Seins zu tun haben. Mit Schicksalen von Kindern. Mit häuslicher Gewalt und seelischer Grausamkeit.
Gott sei Dank gibt es als Ausgleich auch immer die Momente, wo ich mich unendlich mitfreuen kann. Beispielsweise hat eine Klientin, die ich zum Thema Raucherentwöhnung als Schwangere sowie Angst und Trauma betreut habe, ein gesundes Kind zur Welt gebracht. Ein Klient hat es endlich geschafft, alleine mit dem Auto in die Arbeit zu fahren, nachdem er bedingt durch einen Verkehrsunfall nicht mehr am Straßenverkehr teilnehmen konnte. Ein beinamputierter, depressiver Patient läuft wieder und schöpft neuen Lebensmut. Und die geschlagene Ehefrau zieht demnächst in ihre eigene Wohnung.
Mein Fazit
Als Coach oder Therapeut selbst von Emotionen überflutet zu werden ist nicht schlimm. So lange Du das nicht totschweigst, versuchst zu unterdrücken oder irgendwie gegenüber dem Klienten ausagierst. Rede über Deine Emotionen, such Dir gute Supervision oder auch Intervision mit Kollegen. Nimm an, dass Dich bestimmte Themen in Bezug auf Dich selbst betreffen und beschäftige Dich damit. So gewinnst Du Klarheit für Dich. Das ist der Weg, um ein noch besserer Coach/Therapeut zu werden.
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