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Stigma Psychotherapie

Stigma Psychotherapie

 

Schwarze Hörner. Ein Umhang. Schwarze Halskette. Dunkel umrandete Augen. Rote Lippen. Fertig ist mein Malefiz-Faschingskostüm. Ich bin kein Faschingsfreak. Aber kostümiert in die Arbeit zu gehen und meinen Klienten so zu begegnen gehört für mich dazu. Gestern war es wieder soweit - Faschingsdienstag. Und ich habe erstaunliche Erfahrungen gemacht. Ich habe Menschen ein Lächeln ins Gesicht gezaubert, die in ihrem Alltag gerade absolut keinen Grund zur Fröhlichkeit finden. Ich habe humorvolle, lockere Gespräche geführt und dabei jede Menge über Menschen erfahren - ganz nebenbei. Ich habe mit Menschen gesprochen, die niemals in meiner Rolle als Psychologin das Gespräch mit mir gesucht hätten. Im Kostüm ließ sich das Stigma Psychotherapie ganz leicht überwinden. Was bedeutet das nun für den faschingsfreien Alltag?

Was bedeutet Stigmatisierung?

Stigma kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet Stich-, Punkt-, Wund- oder Brandmal. Sowohl das Aussehen als auch eine Eigenschaft oder das Verhalten einer Person kann somit negativ bewertet, also im wörtlichen Sinne gebrandmarkt, werden. Der Mensch fühlt sich ausgeschlossen, verurteilt, gemobbt, benachteiligt oder direkt angegriffen. 

 

Es wird eine (unzulässige) Verknüpfung hergestellt wird zwischen einem Merkmal und bestimmten negativen Eigenschaften. So wird jemand, der Psychotherapie benötigt, schnell als dumm, schwach, faul, unberechenbar oder gar gewalttätig angesehen. Aydin und Fritsch (2015) berichten in ihrem im Ärzteblatt veröffentlichten Beitrag, dass vor allem schizophrene, alkoholabhängige und depressive Klienten besonders schlecht beurteilt werden. Die Berichterstattung in den Medien trägt dazu bei, welches Bild von psychischer Erkrankung in der Gesellschaft vorherrscht. In den meisten Fällen fehlt schlicht und einfach Wissen rund um die Krankheitsbilder. 

 

Stigmatisierung spielt also mit Vorurteilen. Sie kann einerseits von außen kommen, weil andere Menschen einen beurteilen. Sie kann aber auch als Selbst-Stigmatisierung gegen sich selbst gerichtet sein. 

Was verbinden Menschen mit dem Gang zur Psychotherapie?

 

Meine Praxis liegt direkt im Kurgebiet von Bad Griesbach. In Pausen, wenn meine Türe zum Lüften offen steht, höre ich oft Kommentare von Vorübergehenden. Sie lesen laut vor, was an meiner Eingangstür steht:  "Die Hypnose Praxis - Diplom-Psychologin. Ja so was brauche ich nicht. Ich spinne ja nicht." Die Menschen, die sich Hilfe suchen, weil sie im Moment Schwierigkeiten haben, spinnen also. Die haben sie nicht alle. Haben einen Knacks. Die kriegen ihr Leben nicht selbst auf die Reihe. Sind lächerlich schwach. 

 

Oder auch beliebt: Menschen, die psychisch erkrankt sind, drücken sich nur vor ihren Pflichten, vor der Arbeit. Die wollen doch nur Aufmerksamkeit. Auf der Couch vom Psychologen können sie sich die ja holen. Aber wehe, man betritt die Praxis einmal - so schnell kommt man da nicht wieder raus. Da ist Gehirnwäsche angesagt. Wer weiß, was da mit einem gemacht wird. Hypnotherapie noch dazu - völlig suspekt, manipulativ, nur Hokuspokus. Geldschneiderei. Außerdem verliert man da die Kontrolle. 

 

Was das helfen soll, das ganze Leben vor jemandem auszubreiten? Wieso soll ich über meine Kindheit reden, wo ich doch jetzt die Probleme habe? Da werde ich durchleuchtet, beurteilt. Muss vor jemandem die Hosen herunterlassen. Und zum Schluss wird mir eine Diagnose ans Bein gebunden, die bei der Krankenkasse auftaucht. Dann bin ich gebrandmarkt, kann bestimmte Versicherungen nicht mehr abschließen. Bekomme vielleicht Ärger als Beamter. 

 

Vielleicht muss ich dann Psychopharmaka schlucken. Dann ist alles vorbei. Ich will nicht, dass eine Tablette meinen Charakter verändert. Und dass ich dann abhängig werde. Das muss schon so gehen. Ich muss das alleine schaffen. Wie soll ein Therapeut auch verstehen, in welcher Situation ich bin. Der steckt ja nicht in meiner Haut. Was soll mir der raten, wenn er noch nie abhängig war/noch nie eine Depression hatte etc? 

 

All diese Vorurteile haben Menschen gegenüber der Psychotherapie. 

Woher kommen eigentlich diese ganzen Vorurteile?

Zur Entstehung dieses schlechten Bildes habe ich zwei Theorien. 

 

Die erste Theorie hat etwas zu tun mit der Geschichte der Psychiatrie und Psychotherapie. Es ist noch keine 100 Jahre her, da hieß die Psychiatrie "Irrenhaus". Menschen mit psychischen Störungen wurden mit kaltem Wasser und Elektroschocks traktiert. Traumatisierten Menschen wurden noch mehr Traumata zugefügt. Während des Nazi-Regimes wollte man psychisch Erkrankte ausrotten und benutzte sie systematisch als Versuchskaninchen oder tötete sie sogar in Konzentrationslagern. Kein Wunder also, dass dem jetzigen Gesundheitssystem mit Angst oder zumindest Skepsis begegnet wird.

 

Die zweite Theorie hat damit zu tun, dass viele einfach nicht wissen, was Psychotherapie bedeutet. Was da genau gemacht wird. Aufgeschnapptes Halbwissen wird pointiert weitergegeben. So werden Psychotherapeuten als Seelenklempner mit Couch gesehen, auf die man sich legen muss. Hypnotherapeuten haben alle ein Pendel. Und von allen muss eine ganz schöne Macht ausgehen, wenn die es schaffen, einen zu verändern. Was wir natürlich nicht tun. Denn das kann nur der Klient selbst. Aber vor dieser Macht und diesem Machtgefälle allwissender Therapeut und kleiner, unwissender Klient haben viele zusätzlich Respekt. 

 

 

Was bewirkt die Stigmatisierung von Psychotherapie?

Psychotherapie ist noch immer verpönt. Am Land wo jeder jeden kennt, und jeder mehr vom Nachbarn weiß als der über sich selbst - noch mehr als in der anonymen Stadt. Das führt dazu, dass viele Menschen, die Hilfe bräuchten, sich keine holen. So chronifizieren Beschwerden. Nicht selten schlagen Klienten in meiner Praxis auf, die zum allerersten Mal seit 25 Jahren über ihre Suchterkrankung sprechen. Unfassbar. 

 

Was, DU gehst zum Psychotherapeuten? Dieser Entdeckung wollen viele Klienten aus dem Weg gehen. Sie sprechen im Freundes- oder Bekanntenkreis nicht darüber. Manche sagen es noch nicht einmal der engsten Familie. Sie schleichen sich heimlich in die Praxis, achten darauf, nicht gesehen zu werden. Wenn sie warten müssen, tun sie so, als ob sie sich die Schaufenster der Läden nebenan ansehen würden. Sie parken ihr Auto auf einem Parkplatz weiter weg, nicht direkt vor der Praxis. 

 

Menschen, die offen auf Grund ihrer psychischen Erkrankung angefeindet werden, ziehen sich häufig noch mehr zurück. Versinken noch stärker im Krankheitsbild. Werden unsicherer und werten sich selbst noch mehr ab. Sie haben wenig Lobby, finden wenig Unterstützung in der Gesellschaft. Will ein psychisch angeschlagener Klient einen neuen Job, wird bei selber Qualifikation bestimmt der psychisch Gesunde eingestellt. Geht es darum, das Rennen um ein Haus oder eine Wohnung zu gewinnen, liegt gewiss der Unauffällige vorn. 

 

 

Was können Therapeuten zur Ent-Stigmatisierung beitragen?

Wichtig finde ich zunächst einen respektvollen, wertschätzenden und offenen Umgang mit jedem einzelnen Menschen, der die Praxis betritt. Unabhängig davon, was er hat, was er kann oder wie lange er bereits krank ist. Unabhängig davon, ob er bereits die dritte Psychotherapie beginnt oder noch nie einen Psychotherapeuten aus der Nähe gesehen hat.

 

Als Therapeut finde ich es total wichtig, dieses Macht-Gefälle zu entkräften. Ich unterhalte mich mit den Klienten auf derselben Ebene. Bin quasi nur der erfahrenere Klient. Ich zeige mich authentisch. Und Überraschung: Psychotherapeuten sind auch nur Menschen. Deshalb halte ich es für angezeigt, dass ich - wo es nützt - auch über Persönliches zu sprechenMich nahbar zeige. Mich berechenbar mache.

 

Um nochmal auf mein Faschingskostüm zurück zu kommen: was den Klienten viel Anspannung nimmt, ist, wenn man sich als Therapeut selbst nicht immer so ernst nimmt. Wenn man den Menschen mit Humor begegnet. Wenn man es ihnen in der ersten Begegnung leicht macht, die Hemmschwelle zu überschreiten. Oft höre ich danach "war ja gar nicht so schlimm" oder  "die ist ganz nett". 

 

Dann gilt es, die Empowerment-Phase einzuleiten. Der psychisch Erkrankte wird darin bestärkt, sich von Schuld und Scham darüber, krank zu sein, zu befreien. Ich schule den Klienten darin, wie er mit seiner Erkrankung und der Reaktion anderer Menschen darauf, umgehen kann. 

 

Wichtig erscheint mir auch, über psychische Erkrankungen und die wahre Natur von Psychotherapie aufzuklären. Ich tue das beständig in meinem kompletten privaten und beruflichen Umfeld. Gezielter geht es, indem man Vorträge hält, Infoveranstaltungen organisiert, und einen Tag der offenen Tür in der eigenen Praxis abhält. 

 

 

Wenn Du Psychotherapie bräuchtest, würde es Dir leicht fallen, Dir Hilfe zu holen? Was würdest Du über Dich selbst denken? Welche Faktoren müssten gegeben sein, dass Du Dich bei einem Therapeuten gut aufgehoben fühlst anstatt skeptisch zu sein?

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Kommentare: 1
  • #1

    Lidija (Dienstag, 27 Februar 2024 20:32)

    Liebe Julia,
    du sprichst oder schreibst mir aus dem Herzen.

    Ich selbst bin Heilpraktikerin für Psychotherapie und baue mir seit Jahresbeginn meine Selbstständigkeit auf.

    Und auch mir begegnen immer wieder diese Vorurteile und das (gefährliche?) Halb- oder Nicht-Wissen über Psychotherapie, verschiedene Therapieverfahren, Abhängigkeiten, Hypnose... die Liste ist noch viel länger.

    Ich finde es super, dass es Menschen wie dich gibt, die gezielt aufklären und Psychotherapie gesellschaftsfähig machen wollen. Ich mache definitiv auch mit. �

    Liebe Grüße
    Lidija