Der Bestell-Button war schnell gedrückt bei einem Hörbuch, das auf der Bestsellerliste stand und mich durch seinen englischen Titel irgendwie ansprach. Worum es genau ging, hatte ich nur überflogen, gar nicht bewusst wahrgenommen. Ich wollte eine Geburtstagstorte backen und suchte Zerstreuung. Demenz – ok keine leichte Kost. Und dann: Krieg. Flucht. Nagender Hunger. Unerfüllte Liebe. Es hagelte wie Gewehrkugeln auf mich ein.
Dieses Buch berührte und beeindruckte mich bis ins Mark. So sehr, dass ich mich mir nach dem Hörbuch das gedruckte Buch zusätzlich geholt habe. Es hinterließ seine Spuren in mir, viel mehr als jedes Buch, das ich bisher gelesen oder gehört habe. Und das heißt etwas, denn seit ich lesen kann, verschlinge ich Bücher. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist es, stundenlang in Buchhandlungen zu stöbern.
„Stay away from Gretchen – eine unmögliche Liebe“ von Susanne Abel* brachte mich dazu, zu weinen. Brachte mich dazu, die Luft anzuhalten. Empört aufzuschreien. An manchen Stellen entlockte es mir auch ein Schmunzeln.
Das Buch brachte mich dazu, über meine Rolle als Therapeutin nachzudenken. Als Mama. Und vor allem auch als Kriegsenkel. Denn ja, meine Großeltern erlebten als Kinder in sehr verschiedenen Welten den Zweiten Weltkrieg.
Nachdem mich der Roman so sehr gefangen nahm, noch weit über das letzte Wort hinaus, musste ich einfach einen Blogartikel darüber schreiben.
„Stay away from Gretchen“ – ein Buch über Kriegstraumata, Demenz und so viel mehr
Der Roman erzählt die Geschichte der 84jährigen Greta Monderath. Ihr Sohn Tom ist ein bekannter Fernsehmoderator. Weil es zwischen den beiden stets sehr konfliktreich war, hält sich der Kontakt in Grenzen. Zwischen zwei Terminen, immer ein Ohr am Handy, besucht Tom seine Mutter. Ihm fällt auf, dass sie zunehmend vergesslicher wird.
Sie baut sich eine Welt aus Floskeln wie „Das weißt Du doch“ oder „Du kannst manchmal dumm fragen“ auf. Weil es nicht mehr reicht, dass die Nachbarin ab und zu auf sie aufpasst, landet sie verwirrt im Krankenhaus. Ab diesem Zeitpunkt steht die Diagnose „Alzheimer“ im Raum. Sie kauft ein Luxusauto, obwohl sie Jahre schon nicht mehr gefahren ist. Mehr und mehr landet sie in Kindheitserinnerungen. Und damit mitten in der für sie traumatischsten Zeit, deren Andenken sie die letzten Jahrzehnte immer wieder in tiefe Depression mit Klinikaufenthalten gestürzt hatte.
Die Rollen drehen sich langsam um. Tom muss immer wieder seinen Job als Fernsehmoderator hintan stellen, um seiner Mutter zu helfen. Beim Aufräumen fällt ihm ein Bild in die Hände, das seine Mutter als junges Mädchen zeigt. Konfrontiert mit diesem Bild und vielen Fragen darum, taucht Greta tiefer in die Vergangenheit ab. Es zeigt sich, dass es ein großes Familiengeheimnis gibt, von dem Tom nichts wusste.
Greta war als junges Mädchen in Bob, einen GI afroamerikanischer Herkunft, verliebt, der in Heidelberg stationiert war. Dorthin war die Familie von Ostpreußen aus geflüchtet. Eine Liebe, die in der Zeit mehr als verboten war. Denn deutsche Mädchen wurden ganz schnell ihren Ruf los, waren dann nur noch als „Amiflittchen“ verschrien. Auch innerhalb der Army war es Schwarzen verboten, mit deutschen Mädchen Kontakt zu haben. Es galt die Parole, die dem Buch seinen Namen gegeben hat. Nämlich „Stay away from Gretchen“. Mit Gretchen war quasi das „deutsche Mädchen“ im Allgemeinen gemeint. Eine unmögliche Liebe in schwierigen Zeiten.
Tom macht mit Greta und der Nachbarin einen Ausflug nach Heidelberg, um Gretas Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Er will unbedingt herausfinden, warum sie behauptet, der GI auf dem Foto sei sein Vater. Parallel betreibt er mit seiner Kollegin Jenny Ahnenforschung.
Nach dem Heidelberg-Besuch und vor allem nachdem Tom seiner Mutter das Bild eines kleinen Mädchens vor die Nase hielt, die sie liebevoll „Mariele“ nennt, landet Gretas Wahrnehmung komplett in der Nachkriegszeit. Sie zieht los, um Marie zu finden – die gemeinsame Tochter von ihr und Bob. Sie landet in der Psychiatrie, weil niemand die dramatische Geschichte aus ihrer Vergangenheit kennt.
Erst langsam werden allen Beteiligten die Zusammenhänge klar. Bob verschwand nach Amerika. Gretas Großmutter, die ihr Kind betreut hatte, starb. Der lange tot geglaubte Vater kam als Kriegsversehrter und traumatisierter Alkoholiker nach Hause, jagte Greta mit dem „Bastard“ aus dem Haus. Eine Wohnung konnte sie sich nicht leisten. Um arbeiten zu können, gab Greta das Kind vorübergehend in ein Kinderheim. In der Hoffnung, sie ständig sehen zu können. In der Hoffnung, sie bald wieder abholen zu können. Als ihr dies verwehrt wurde, wurde sie gegenüber der Leitung des Heimes handgreiflich, weshalb ihr das Sorgerecht entzogen wurde.
Nachdem Marie als "Brown Baby" in Deutschland nicht gewollt war, wurde sie in die Heimat ihres Vaters – Amerika – zur Adoption freigegeben.
Tom bricht zusammen, als er erfährt, dass er eine Schwester hat. Das Ende verrate ich an dieser Stelle nicht.
Kriegstraumata: die Fülle der Verluste macht sprachlos
Was dieses Buch in einer sehr berührenden Art und Weise aufgreift, ist die Fülle der Traumata, die durch den Zweiten Weltkrieg entstanden sind.
Einerseits wäre da das Thema Flucht und Entwurzelung. Menschen, die ein gutes Leben hatten, vielfach auch ordentlich Besitz. Gute Berufe. Ein gesichertes Auskommen. Menschen, die flüchten mussten und alles zurück gelassen haben, um das nackte Leben zu retten. Getrennt wurden in den Wirren der Flucht. Menschen, die bei Null fern von der Heimat wieder anfingen. Die keiner haben wollte. Die jeden Stolz hinunterschlucken mussten, um den Schlafplatz und die Arbeit bei einem Bauern behalten zu können und dabei trotzdem so sehr an Armut und Hunger litten, dass viele daran gestorben sind.
Dieses Thema berührt mich vor allem deshalb so sehr, weil meine Großmutter väterlicherseits eine von ihnen ist. Sie kommt ursprünglich aus Breslau. Wir wissen wenig von ihrer tatsächlichen Geschichte. Nur Bruchstücke. Mittlerweile ist sie ebenso dement wie Greta. Eine Chance, mehr zu erfahren, mehr zu verstehen? Das bewegt mich sehr.
Ein anderes Trauma war natürlich, Menschen an den Krieg zu verlieren. Eltern. Kinder. Freunde. Ich frage mich als Mama tatsächlich, wie so manche Mutter es aushalten konnte, mehrere Söhne zu verlieren. Zuzusehen, wie sie verwundet, amputiert, psychisch krank wieder nach Hause kamen. Das übersteigt mein Vorstellungsvermögen.
Natürlich sprechen wir bei Kriegstrauma auch von den Soldaten, die kämpfen mussten. Die auf dem Schlachtfeld waren. Die knapp mit dem Leben davon gekommen sind. Kameraden sterben gesehen haben. Gefangenschaft und Zwangsarbeit erdulden mussten. Unmenschliche Zustände – und danach wieder Mensch sein? Oft nur mit Alkohol aushaltbar. Wie kann man sein Hirn umstellen von der Nazi-Ideologie, für die man schließlich gekämpft hat, auf die neue Zeit? Wie soll es gehen, mit dem „Feind“ jetzt als Besatzer auf Du und Du zu sein? Wie soll man umgehen mit der Frau, die vielleicht auf einen gewartet hat und auf Liebe hofft – oder aber schon verheiratet ist? Wie soll man sich wieder zivilisiert in die Gesellschaft eingliedern? Ein Ding der Unmöglichkeit.
Und wie ich in meiner Praxis immer einmal wieder festgestellt habe über die Jahre – leider keine Sache, die nur damals passiert ist. Die es nur vor vielen Jahrzehnten gab. Nein – das gibt es auch noch heute nach Auslandseinsätzen in Kriegsgebieten.
Traumata haben auch all diejenigen davongetragen, die als Zivilisten den Krieg erleben mussten. Besonders in den stark bombardierten Städten. Ständig unruhige Nächte im Luftschutzbunker. Ständig Angst um Leib und Leben. Mit dem Tod auf Du und Du. Zerstörung und Verwüstung um sich herum.
Traumata erlebten Frauen, die vergewaltigt wurden, weil es niemanden gab, der sie hätte schützen können. Traurige Realität.
Traumata erlebten natürlich in besonderem Maße verfolgte Minderheiten. Und damit meine ich nicht nur Juden oder politisch Verfolgte. Sondern auch geistig und körperlich behinderte Menschen sowie psychisch Kranke.
Kriegstraumata: Die vergessenen „Brown Babies“
Eine Minderheit, über deren Schicksal ich mir vor dem Lesen dieses Buches überhaupt keine Gedanken gemacht hatte, sind die „Brown Babies“. Jene Kinder, die aus Beziehungen zwischen deutschen Müttern und afroamerikanischen Soldaten hervorgegangen sind. Es scheint sich um etwa 4800 Kinder zu handeln, die genau wie ihre Mütter offen Anfeindungen ausgesetzt waren.
Schockiert war ich, als ich las, dass noch 1952 Luise Rehling, eine CDU-Politikerin, in einer offiziellen Bundestagsdebatte folgende Sätze von sich gab: „Eine besondere Gruppe unter den Besatzungskindern bilden die (…) Negermischlinge, die ein menschliches und rassisches Problem besonderer Art darstellen. … Die verantwortlichen Stellen der freien und behördlichen Jugendpflege haben sich schon seit Jahren Gedanken über das Schicksal dieser Mischlingskinder gemacht, denen schon allein die klimatischen Bedingungen in unserem Land nicht gemäß sind. Man hat erwogen, ob es nicht besser für sie sei, wenn man sie in das Heimatland ihrer Väter verbrächte. … Diese Mischlingsfrage wird also ein innerdeutsches Problem bleiben, das nicht einfach zu lösen sein wird. …“ *1
Eine vermeintliche „Lösung“ war der von der Journalistin Mabel Grammer initiierte Brown Baby Plan. Um Gutes zu tun, wurden Kinder in die USA zu afroamerikanischen Eltern zur Adoption vermittelt. Dass diese Kinder häufig als billige Arbeitskraft gesehen wurden und sie dort mit vielleicht noch weniger Liebe und Respekt aufwuchsen als in Deutschland, war zu dem Zeitpunkt wohl nicht Teil des Planes.
Wie konnte mitten in Deutschland – vor nicht allzu langer Zeit – bedingt durch Rassenhetze so etwas passieren? Nach dem Krieg. In einer Gesellschaft, die eigentlich die Nase voll hätte haben müssen von Ausgrenzung, Hass und Vernichtung. Und als Kriegsenkel stelle ich mir durchaus die Frage, wie es gehen kann, zu verhindern, dass so etwas wieder passieren kann. Dass jemand sich als moralischer Richter aufschwingt und einer Mutter ihr Kind abpresst. Dass es so viele Mitwisser bei etwas einfach nur Falschem gibt, die zuschauen und gleichzeitig morgens ohne Probleme in den Spiegel sehen können.
Ich bin kein Fan von Verurteilen. Denn wie heißt es so schön in einem indianischen Sprichwort: Man muss erst einmal eine Meile in den Schuhen einer Person gegangen sein, um denjenigen verstehen zu können. Aber ich bin ein Fan von Verantwortung übernehmen. Und dieses Buch hat mich wachgerüttelt. Deshalb gibt es diesen Artikel. Ich möchte nicht, dass die Dinge in Vergessenheit geraten, wo gerade die Letzten der betroffenen Generation wegsterben. Ihre berührenden Geschichten und besonderen Leben sollen weiter in unseren Köpfen existieren und in unserem Handeln Widerhall finden.
Kriegstraumata: Das transgenerationale Trauma
Was in diesem Buch auch thematisiert wird, sind transgenerationale Traumata. Dabei wird ein Trauma, das eine Person erlebt hat, übergeben an die Kinder und sogar Enkel. Die Übertragung kann dabei direkt, aber auch indirekt erfolgen. Das heißt also: das Trauma kann weitergegeben werden, obwohl es nicht thematisiert wurde. Vielleicht ist es so wie im Buch ein Familiengeheimnis.
Es muss sich bei Kindern oder Enkeln deswegen nicht zwangsweise die gleiche Symptomatik zeigen. Ja, es konnte noch nicht einmal bewiesen werden, dass es unter den Nachkommen in jedem Fall eine signifikant höhere Rate von psychisch Kranken gibt. Jedoch konnte eine erhöhte Anfälligkeit für psychische Erkrankungen festgestellt werden.*2
Wie kann das eigentlich passieren? Man geht davon aus, dass schwer traumatisierte Personen, die ihre schlimmen Erfahrungen nicht integrieren und verarbeiten konnten, anders mit ihren Kindern umgehen. Dies scheint sich dann auf das Selbstbild, das emotionale Erleben und die Träume der Kinder auszuwirken und innere Konflikte zu erzeugen, die wiederum ihrerseits auf die nächste Generation übertragen werden können.
Bei Greta im Buch hat es sich so dargestellt, dass sie eine sehr strenge Mutter war, die für Tom wenig Liebe zeigen konnte und sich immer wieder in ihre Depression flüchtete. Einen Zustand, den Tom unter keinen Umständen heraufbeschwören wollte, weshalb er sein Verhalten sehr anpasste. Im Rahmen der Ahnenforschung erlitt er dann eine Panikattacke. Ein klarer Fall von transgenerationalem Trauma.
Immer einmal wieder sollten wir als Hypnose-Therapeuten dieses Thema der übertragenen Traumata im Kopf haben, wenn uns Menschen in der Praxis begegnen. Es könnte sich lohnen, im Unterbewusstsein dazu zu forschen.
Was ist also heilsam in Bezug auf Kriegstraumata?
Ich glaube was zunächst einmal der wichtigste Punkt ist: das Schweigen zu brechen. Darüber reden. Ich weiß von einigen meiner Patienten, dass sie sich in sehr hohem Alter noch mit schrecklichen Alpträumen gequält hin und her gewälzt haben. Weil sie zum Beispiel als Kind Bombenangriffe nur knapp überlebt haben. Oder mit angesehen haben, wie die Mutter vergewaltigt wurde. Oder dabei waren, als der Vater erschossen wurde.
Niemand sollte von den Alpträumen wissen, denn es sei ja schon so lange her. Es muss ja auch einmal ein Ende finden. Man will ja nicht schwach erscheinen. Andere haben das genauso erlebt.
Es muss darüber gesprochen werden. Um sich zu entlasten. Und um das Umfeld verstehen zu lassen, was gerade mit einem passiert.
Der beste Weg wäre natürlich, per Traumatherapie alles aufzuarbeiten. Alles, was man heute über EMDR und Hypnose weiß, wusste man damals nicht. Durch Hitler und die Nazi-Ideologie wurde das Thema Psychiatrie und Psychotherapie um Jahrzehnte zurück versetzt. Erst wieder in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gewann das Thema deutlich an Fahrt. Da war es für viele schon vermeintlich zu spät. „Salonfähig“ und weniger stigmatisiert ist Psychotherapie hingegen in den USA, weshalb es dort viel bessere und frühere Trauma-Forschung gibt als bei uns.
Das klingt jetzt vielleicht pathetisch. Aber letztendlich – außerhalb von darüber sprechen und Therapie machen – hilft doch eigentlich immer, den Menschen behutsam und mit viel Geduld und Ausdauer immer wieder emotional zu berühren. Ihm Liebe entgegen bringen. So viel, dass es für sich und den Anderen reicht.
Mein Fazit zum Buch "Stay away from Gretchen"
Jeder, dessen Eltern und Großeltern Berührungspunkte mit dem Zweiten Weltkrieg hatte, sollte dieses Buch lesen. Jeder Therapeut sollte dieses Buch lesen*. Jeder, der mit dem Thema Demenzerkrankung eines Angehörigen zu tun hat, sollte dieses Buch lesen. Und jeder, der sich für das Weltkriegsgeschehen und Geschichte interessiert, sollte ebenso dieses Buch lesen. In mir hat es wirklich etwas verändert.
Wir sind 2022 in der glücklichen Lage, frei unsere Meinung äußern zu dürfen. Und als Frauen freie Entscheidungen über unser Leben treffen zu dürfen. Nutzen wir diese Chance!
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*1 zitiert nach: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, 1. Legislaturperiode, Band 10, 198. Sitzung am 12. März 1952, Punkt 10 der Tagesordnung, S. 8505ff.
*2: Quelle https://www.bundestag.de/resource/blob/501186/5cab3d455ea7c85a1dfbd7ce458d499a/wd-1-040-16-pdf-data.pdf
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